Macbeths Dilemma: Ist es die Introversion oder die Extroversion, die ihn zu Fall bringt?

Zwei Hände im Kampf um ein Seil – ein Symbol für die zerstörerische Dynamik zwischen Macbeths introvertiertem Zögern und Lady Macbeths extrovertentem Drängen, die beide unaufhaltsam in den Abgrund zieht.

Macbeths Dilemma: Ist es seine introvertierte Grübelei oder Lady Macbeths extrovertiertes Drängen, die seinen Untergang besiegelt? Ein Blick auf eine tödliche Dynamik, die zeitlos und erschreckend real ist.

Macbeth ist eine jener Geschichten, die einen nicht mehr loslassen, egal ob du eher introvertiert oder extrovertiert bist. 

Für die einen ist es das Psychodrama** eines Mannes, der sich in seinen eigenen Gedanken verstrickt. Für die anderen ist es das faszinierende Machtspiel zweier Menschen, die sich gegenseitig in den Abgrund treiben. 

Und genau hier wird es spannend: Was passiert, wenn ein introvertierter Grübler und eine extrovertierte Macherin aufeinandertreffen?

Ich habe schon einige Shakespeare-Stücke live gesehen, aber Macbeth war lange ein blinder Fleck. 

Mein Zugang kam erst über die Verfilmungen - angefangen mit Patrick Stewart (2010), dann Michael Fassbender (2015) und zuletzt Denzel Washington (2021). 

Immer das gleiche Muster: Macbeth zögert, Lady Macbeth drängt. 

Aber erst Anfang 2025, als ich die Bühnenversion mit David Tennant und Cush Jumbo im Kino sah, hat es Klick gemacht. Diese Version stellt die Beziehung zwischen den beiden völlig anders dar - und genau das hat mich dazu gebracht, diesen Blogbeitrag zu schreiben.

Ich konzentriere mich hier auf die klassischen Versionen und den dazugehörigen Shakespeare-Text, weil sie die Dynamik** des Grübelns und Drängens am besten zeigen.

Aber ich werde immer wieder in Einschüben auf die Version von Max Webster (Theaterregisseur) eingehen, weil sie zeigt, wie tief und erschreckend dieses Machtspiel wirklich gehen kann - auf eine Weise, die mir viel plausibler erscheint als in den anderen Stücken.

Und das ist kein Phänomen, das nur in Shakespeares Welt existiert. Wie oft kommt es vor, dass jemand, der eigentlich zögert, von einem anderen in eine Richtung gedrängt wird, die er gar nicht wollte? Was passiert, wenn ein introvertierter Mensch in einen Strudel von Entscheidungen gerät, weil ein anderer ihn immer weiter treibt?

Kurz: Was passiert, wenn ein introvertierter Zauderer (Macbeth) auf eine extrovertierte Antreiberin (Lady Macbeth) trifft?

Begriffserklärungen (mit ** gekennzeichnet) und eine Linkliste mit weiteren Quellen, Artikeln und Lesetipps findest du am Ende des Beitrags.

Aufgeschlagenes, vergilbtes Buch mit dem Titel Macbeth von William Shakespeare. Die erste Seite zeigt eine Übersicht der Charaktere und den Beginn des Textes. Warmes Licht betont die historische Atmosphäre des Werkes.

Die Handlung: Stell dir vor, du bist Macbeth

Du bist ein Kriegsheld. Du hast für dein Land gekämpft, deine Treue bewiesen. Und dann, nach einer siegreichen Schlacht, machst du dich auf den Heimweg - müde, erleichtert, vielleicht auch ein wenig nachdenklich. Da stehen sie plötzlich vor dir: drei seltsame Gestalten, Hexen vielleicht. Sie schauen dich an und sagen dir Dinge, die du nicht verstehst. Dass du bald mehr sein wirst, dass du König wirst.

Klingt absurd, oder? Aber kurz darauf bekommst du tatsächlich einen neuen Titel - Thane of Cawdor - genau wie es die Hexen vorhergesagt haben. Ein Zufall? Eine Fügung des Schicksals?

Der Gedanke an den zweiten Teil der Prophezeiung** - König werden - lässt dich nicht mehr los. Und als du nach Hause kommst, weiß deine Frau schon, was du denkst. Sie sieht die Möglichkeiten, die sich auftun. Sie sieht, was du noch nicht laut auszusprechen wagst.

Und dann passiert etwas, das du kennst, wenn du introvertiert bist: Du grübelst. Du wägst ab. Du denkst an die Konsequenzen. Aber neben dir steht jemand, der nicht zweifelt, sondern antreibt. Lady Macbeth redet, überredet, treibt dich an. Sie stellt dich in Frage, lässt dich spüren, dass du dich jetzt entscheiden musst. Und ehe du dich versiehst, hältst du den Dolch in der Hand.

Nach der Tat dreht sich das Gedankenkarussell erst richtig. Du hast es getan. Du hast den König ermordet.

Dein Herz rast, dein Kopf dröhnt, dein Gewissen schreit - aber es gibt kein Zurück mehr.

Also tust du, was viele Grübler irgendwann tun: Du stürzt dich in das, was du begonnen hast. Du wirst selbst zum Getriebenen. Zum Planer. Zum Herrscher. Aber nicht zum sicheren Herrscher.

Denn das Problem mit der Macht ist: Sie lässt dich nicht in Ruhe. Überall siehst du Gefahr, in jedem Blick spürst du Zweifel, in jedem Flüstern hörst du Verrat. Um deinen Thron zu sichern, tötest du weiter. Der Freund wird zum Feind, der Verbündete zur Bedrohung.

Je mehr du versuchst, deine Macht zu sichern, desto mehr entgleitet sie dir. Und während du immer tiefer in diesen Strudel aus Gewalt und Angst gezogen wirst, passiert mit Lady Macbeth das Gegenteil: Sie zerbricht an dem, was sie in Gang gesetzt hat.

Ihr seid zusammen aufgestiegen - aber ihr fallt nicht zusammen. Sie verliert sich in Schuldgefühlen, du in Paranoia**. Wenn es zu spät ist, wenn du längst alles geopfert hast, was dir einmal wichtig war, merkst du, dass du nichts mehr in der Hand hast. Dein Ende kommt, weil du nicht aufhören konntest. Weil du nicht früher den Mut hattest, Nein zu sagen.

Und so endet es: Lady Macbeth stirbt an ihrem Gewissen, du an deinem Ehrgeiz. Du hast gewonnen - aber alles verloren.

Einschub: Eine gefühlt komplett andere Version

Wenn du denkst, du kennst Macbeth, dann wird diese Inszenierung** alles auf den Kopf stellen. Die Version mit David Tennant und Cush Jumbo ist keine klassische Bühnenfassung, sondern man hat das Gefühl, direkt in die Gedanken der Figuren hineingezogen zu werden

Die Inszenierung arbeitet mit binauralem Ton** - das heißt, du hörst nicht nur, was gesprochen wird. Man spürt es. Stimmen, die sich an dein Ohr schmiegen, als würden Macbeth und Lady Macbeth direkt in deinen Kopf flüstern. Geräusche, die dich spüren lassen, wie beunruhigend nah die Gewalt ist.

Aber das wirklich Spannende ist die Beziehung zwischen den beiden. Normalerweise ist das klar: Lady Macbeth drängt, Macbeth zögert. Aber hier? Hier stehen sie als Einheit da.

Ihre Beziehung ist das Fundament**, das sie antreibt - und das sie langsam, Stück für Stück, zusammenbrechen lässt. Sie sind nicht einfach ein ehrgeiziges Paar, das um Macht kämpft. Sie sind zwei Menschen, die mit etwas leben, das unausgesprochen im Raum steht. Ein Verlust, der sie verbindet und gleichzeitig von innen aushöhlt.

Es wird nie direkt ausgesprochen, aber die Inszenierung macht es spürbar: Sie haben ein gemeinsames Trauma. Vielleicht ein verlorenes Kind. Vielleicht etwas anderes, das leise und unsichtbar ihre Welt erschüttert hat. Aber es ist da. In jeder Berührung, in jedem Blick, in jeder stillen Sekunde, in der sie sich aneinander festhalten, weil sie sonst nirgendwo Halt finden.

Sie kommen nicht unbeschrieben in diese Geschichte. Sie kommen mit einer Wunde, die nie heilen wird - und das macht alles, was folgt, umso tragischer.

Diese Macbeth-Version stellt die Tragödie nicht als reines Machtspiel dar. Sie geht tiefer. Sie zeigt, wie sehr die beiden aufeinander angewiesen sind, wie sehr sie einander brauchen - und wie genau das ihr Untergang ist. Das Publikum erlebt nicht nur, was die beiden tun, sondern fühlt, warum sie es tun. Und das macht es noch verstörender.

Wenn du also denkst, du kennst Macbeth, dann schau dir diese Version an. Sie fühlt sich anders an. Denn sie lässt dich nicht nur zuschauen - sie zieht dich mit hinein.

Dramatisches Porträt von Macbeth, der als introvertierter Zauderer mit nachdenklichem Blick in düstere Schatten getaucht ist – ein Symbol seines inneren Konflikts.

Macbeth: Der introvertierte Zauderer

Macbeth ist kein klassischer Führer, der sich mit breiter Brust und lautem Geschrei an die Spitze kämpft. Er ist auch nicht von Anfang an ein skrupelloser Tyrann. Was ihn antreibt, ist nicht reine Machtgier, sondern eine Mischung aus Zweifel, Manipulation** und schleichendem Ehrgeiz. Er ist jemand, der viel nachdenkt, oft zu viel - und genau das reißt ihn am Ende in den Abgrund.

Wenn man Macbeth genau betrachtet, erkennt man deutliche Anzeichen von Introvertiertheit. Er ist kein impulsiver Charakter, der sofort handelt, wenn sich die Gelegenheit bietet. Im Gegenteil: Er grübelt. Seine Monologe sind lang, intensiv, fast quälend. Immer wieder wägt er ab, stellt sich Fragen, spielt Konsequenzen durch. Als er von der Prophezeiung der Hexen hört, rennt er nicht los, um den Thron mit Gewalt zu erobern - er zieht sich in seine Gedankenwelt zurück. Erst als sich der erste Teil der Prophezeiung erfüllt und er tatsächlich zum Thane of Cawdor ernannt wird, beginnt sein Gedankenkarussell richtig zu drehen.

Ein klassischer Draufgänger hätte vielleicht einfach zugegriffen. Aber Macbeth zögert. Er hadert mit sich selbst. Er weiß genau, was richtig und was falsch ist - und dieses Bewusstsein macht es ihm umso schwerer. Sein berühmter Monolog „Ist das ein Dolch, den ich vor mir sehe?“ ist nicht nur eine der eindringlichsten Szenen des Stücks, sondern auch ein Paradebeispiel für seinen inneren Kampf. Er sieht den Dolch vor sich, ein Symbol seiner Zweifel, seiner Schuld - lange bevor er die Tat begeht.

Is this a dagger which I see before me,
The handle toward my hand? Come, let me clutch thee.
I have thee not, and yet I see thee still.
Art thou not, fatal vision, sensible
To feeling as to sight? Or art thou but
A dagger of the mind, a false creation,
Proceeding from the heat-oppressed brain?
— Akt 2, Szene 1; https://www.shakespeare-online.com/

Aber wenn er so viel grübelt, warum handelt er dann?

Weil er in diesem Spiel nicht allein ist. Weil seine Frau ihn antreibt, weil sie genau das ist, was er nicht ist: entschlossen, pragmatisch, zielstrebig. Lady Macbeth spürt seine Unsicherheit und nutzt sie aus. Sie stellt ihn in Frage, sie treibt ihn an, sie spielt mit seiner Ehre, bis er nicht mehr anders kann, als den Schritt zu wagen. Und auch nach dem Mord an Duncan bleibt Macbeth nicht der ruhige Denker, der er vorher war. Seine innere Zerrissenheit treibt ihn an. Er merkt, dass er nicht mehr zurück kann - also geht er vorwärts. Das Problem: Er geht zu weit.

Denn das ist seine große Schwäche: Er kann sich nicht gegen äußeren Druck wehren. Weder gegen den von Lady Macbeth noch gegen den von sich selbst. Als er einmal die Grenze überschritten hat, gibt es kein Halten mehr. Sein innerer Monolog weicht immer mehr einer rasenden Paranoia. Wo er am Anfang gezögert hat, ist er nun bereit, jeden aus dem Weg zu räumen, der seine Macht infrage stellt. Er macht sich selbst zum Tyrannen – nicht, weil er es von Anfang an wollte, sondern weil er nicht anders konnte, als immer weiterzumachen.

Macbeth ist also kein kühler Stratege, sondern ein introvertierter Zauderer, der in einem Spiel mitspielt, für das er eigentlich nicht gemacht ist. Er hat zu viele Gedanken, zu viele Zweifel – und am Ende bleibt er allein mit ihnen zurück.

Einschub: Macbeth im neuesten Stück

Die aktuelle Inszenierung von Max Webster mit David Tennant und Cush Jumbo zeigt einen Macbeth, der sich in einigen Punkten vom klassischen Bild unterscheidet. Die Frage, ob er hier als introvertierter Charakter dargestellt wird, ist nicht eindeutig zu beantworten. Einiges spricht dafür, anderes dagegen.

Was spricht dafür, dass Macbeth introvertiert ist?

  • Intimität und Naturalismus**: Diese Inszenierung nutzt binauralen Sound, um die Zuschauer:innen direkt in Macbeths Gedankenwelt hineinzuziehen. Geräusche, Stimmen, die fast körperlich nah wirken - all das verstärkt den Eindruck, dass Macbeth in seinem eigenen Kopf gefangen ist. Die Inszenierung unterstreicht seinen introspektiven** Charakter.

  • Psychologischer Fokus: Die Inszenierung konzentriert sich auf Macbeths innere Konflikte, seine Widersprüche, seine Unsicherheit. Es geht nicht nur um Macht, sondern um eine zerrissene Seele, die sich in etwas verstrickt, das sie nicht mehr kontrollieren kann.

  • Die Beziehung zu Lady Macbeth: Diese Version betont stärker, dass Macbeth und Lady Macbeth eine gemeinsame Vergangenheit haben, die unausgesprochen bleibt - wahrscheinlich der Verlust eines Kindes. Dadurch erhält Macbeths Zögern eine tiefere emotionale Dimension. Es sind nicht nur Angst oder Schuldgefühle, die ihn zurückhalten, sondern eine innere Wunde, die er mit sich herumträgt.

Seyton! – I am sick at heart, When I behold
– Seyton, I say! – This push Will cheer me ever or dethrone me now.
I have lived long enough: my way of life Is fallen into the sere, the yellow leaf;
And that which should accompany old age,
As honour, love, obedience, troops of friends,
I must not look to have; but, in their stead,
Curses, not loud but deep, mouth-honour, breath – Seyton!
— – Akte 5, Szene 3 Macbeth, NHB Classic Plays, Donmar Warehouse Edition

Was spricht dagegen?

  • Macbeths Dynamik: David Tennant spielt Macbeth sehr energiegeladen, fast manisch. Während der klassische Macbeth oft als Grübler dargestellt wird, wirkt er hier getrieben, rastlos, emotional aufgewühlt. Seine Energie passt nicht unbedingt zu einem introvertierten Charakter, der sich sonst eher zurückzieht.

  • Schnelles Handeln: In dieser Version gibt es weniger Zögern, mehr Aktion. Macbeth scheint innerlich zerrissen zu sein, aber er trifft seine Entscheidungen schneller als in anderen Inszenierungen. Er hat weniger den abwägenden, nachdenklichen Charakter, sondern ist ein Mann, der auf Impulse reagiert.

  • Seine Präsenz: Tennants Macbeth ist laut, intensiv, dominant - Eigenschaften, die man eher mit einem extrovertierten Charakter verbindet. Selbst in Momenten des Zweifels wirkt er nicht introvertiert, sondern emotional aufgeladen.

Lady Macbeth: Die extrover-tierte Macherin

Lady Macbeth denkt nicht lange nach - sie handelt. Sie wartet nicht darauf, dass die Dinge von selbst geschehen - sie macht sie möglich. Wenn Macbeth ein introvertierter Zauderer ist, dann ist sie sein extrovertiertes Gegenstück: impulsiv, redegewandt, strategisch in ihrer Einflussnahme.

Sie redet nicht um den heißen Brei herum, sondern sagt offen, was sie will. Und wenn die Worte nicht ausreichen, greifen sie zu anderen Mitteln - Druck, Provokation, Manipulation.

Sprache als Waffe

Lady Macbeths erste und wichtigste Waffe ist ihre Sprache. Sie argumentiert, sie stachelt an, sie macht Vorwürfe. Während Macbeth sich in seinen inneren Monologen verliert, setzt sie die Sprache gezielt ein, um ihn zu beeinflussen. Sie stellt seine Männlichkeit in Frage, stellt ihn bloß, weckt in ihm eine Art Trotzreaktion: „Du bist kein Mann, wenn du es nicht tust.“ Sie spielt auf seine Ehre an, auf seine Loyalität, auf das Versprechen der Macht. Wo Macbeth zögert, füllt sie die Leere mit Worten.

When you durst do it, then you were a man;
And to be more than what you were, you would
Be so much more the man.
— Akt 1, Szene 7; https://www.shakespeare-online.com/

Das macht sie nicht nur zu einer mächtigen Rednerin - es macht sie auch blind für Macbeths Psyche. Sie hält ihn für stärker als er ist. Sie glaubt, dass seine Zweifel nur eine Phase sind, dass er den Mord begehen und dann weitermachen wird. Sie denkt nicht daran, dass Macbeth sich selbst verlieren könnte. Sie sieht nicht, dass er tiefer grübelt, als es gut für ihn ist. Und sie erkennt nicht, dass sie selbst nicht unverwundbar ist.

Ihr großer Fehler

Lady Macbeths Problem ist, dass sie nur einen Teil des Spiels versteht. Sie weiß, wie man Macht erlangt, aber nicht, wie man mit den Konsequenzen lebt. Als Macbeth nach dem Mord an Duncan in Paranoia verfällt, kann sie ihn nicht mehr kontrollieren. Ihr Einfluss schwindet, ihre Worte wirken nicht mehr. Sie hat ihn in Bewegung gesetzt, aber nun bewegt er sich in eine Richtung, die sie nicht vorhergesehen hat.

Nought’s had, all’s spent,
Where our desire is got without content;
’Tis safer to be that which we destroy
Than by destruction dwell in doubtful joy.
— Akt 3, Szene 2; https://www.shakespeare-online.com/

Und dann geschieht, womit niemand gerechnet hat: Sie zerbricht. Sie, die am Anfang die Stärkere, die Klare, die Entschlossene von beiden war, wird von ihrer eigenen Psyche eingeholt. Ihr „Was geschehen ist, ist geschehen“ hält nicht mehr. Der Mord, den sie als Mittel zum Zweck gesehen hat, lässt sich nicht so leicht abschütteln. Während Macbeth sich immer mehr in seiner Tyrannei** verliert, zieht sich Lady Macbeth immer mehr zurück - bis sie schließlich in der berühmten Schlafwandelszene völlig den Bezug zur Realität verliert.

Das zeigt: Auch Extrovertierte sind nicht unbesiegbar. Lady Macbeth hat Macbeth manipuliert, aber sie hat sich selbst überschätzt. Ihre Überzeugung, stärker als ihr Gewissen zu sein, erweist sich als Illusion.

Einschub: Lady Macbeth im neuesten Stück

Die Interpretation von Cush Jumbo als Lady Macbeth in der aktuellen Inszenierung von Max Webster unterscheidet sich in einigen Punkten von den klassischen Darstellungen. Es gibt sowohl Hinweise darauf, dass sie extrovertiert ist, als auch Elemente, die dagegen sprechen.

Was spricht dafür, dass Lady Macbeth extrovertiert ist?

  • Rücksichtslos und entschlossen: Cush Jumbo spielt Lady Macbeth als eine Figur, die von Anfang an mit Nachdruck handelt. Sie ist präsent, direkt, fordernd - keine Frau, die zögert. Ihre Art zu sprechen und zu handeln zeigt eine gewisse Rücksichtslosigkeit, die typisch für extrovertierte Charaktere ist.

  • Zentrale Rolle des Paares: In dieser Inszenierung steht das Ehepaar Macbeth noch mehr im Mittelpunkt als sonst. Lady Macbeth ist nicht nur eine Nebenfigur, die Macbeth antreibt - sie ist ein gleichwertiger Teil dieser zerstörerischen Dynamik. Ihre aktive Rolle in den gemeinsamen Entscheidungen zeigt, dass sie agiert und nicht nur reagiert.

Come, you spirits That tend on mortal thoughts, unsex me here,
And fill me, from the crown to toe, top-full Of direst cruelty!
Make thick my blood, Stop up the access and passage to remorse,
That no compunctious visitings of nature Shake my fell purpose.
Come to my woman’s breasts, And take my milk for gall, you murdering ministers, Come, thick night, And wrap thee in the thickest smoke of hell That my keen knife see not the wound it makes, Nor heaven peep through the blanket of the dark To cry, ‘Hold, hold!’
— Akt 1, Szene 5 Macbeth, NHB Classic Plays, Donmar Warehouse Edition

Was spricht dagegen?

  • Subtilität und Intimität: Diese Inszenierung setzt stark auf Intimität und Naturalismus. Lady Macbeth ist nicht die große, überdramatische Antreiberin**, sondern agiert leise, gezielt, fast flüsternd. Sie spricht Macbeth nicht laut Mut zu, sondern zieht ihn in eine Welt der stillen Manipulation.

  • Psychologische Tiefe und Verletzlichkeit: Anders als in vielen Versionen, in denen Lady Macbeth als fast unerschütterliche Figur beginnt, zeigt Cush Jumbo von Anfang an eine gewisse Verletzlichkeit. Dadurch wirkt sie weniger als klassische Extrovertierte - sie ist nicht nur laut und fordernd, sondern von Anfang an emotional komplexer, weniger berechnend.

Had he not resembled
My father as he slept, I had done it.
— Akt 2, Szene 2 Macbeth, NHB Classic Plays, Donmar Warehouse Edition

Die toxische Dynamik: Introversion trifft Extroversion

Es ist ein immer wiederkehrendes Muster - nicht nur in der Literatur, sondern auch im wirklichen Leben: Der introvertierte, nachdenkliche Zauderer trifft auf eine extrovertierte, impulsive Persönlichkeit, die ihn antreibt. Das kann eine produktive Kombination sein - oder eine katastrophale. In „Macbeth“ ist es Letzteres.

Lady Macbeth bringt genau das mit, was Macbeth fehlt: Klarheit, Entschlossenheit, die Fähigkeit, Dinge auszusprechen. Macbeth dagegen ist ein Mann, der alles erst durchdenkt, analysiert und sich in seinen Gedanken verfängt. Er ist vorsichtig, sie ist fordernd. Er zögert, sie drängt. Und genau das macht ihre Dynamik so gefährlich.

Wenn Tatendrang auf Zögern trifft

Zu Beginn hat Lady Macbeth die Kontrolle. Sie weiß, wie sie ihn manipulieren muss, um ihren Willen durchzusetzen. Sie fordert nicht nur - sie trifft ihn dort, wo es weh tut. Seine Männlichkeit, seinen Ehrbegriff, seinen Ehrgeiz. „Bist du ein Mann?“ ist keine harmlose Frage, sondern ein kalkulierter Angriff auf seine Identität. Und er wirkt. Macbeth handelt nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil er sich getrieben fühlt.

We will proceed no further in this business:
He hath honour’d me of late; and I have bought
Golden opinions from all sorts of people,
Which would be worn now in their newest gloss,
Not cast aside so soon.
— Akt 1, Szene 7; https://www.shakespeare-online.com/

Doch was passiert, wenn der Introvertierte zu sehr nach innen schaut - und der Extrovertierte sich verkalkuliert?

Lady Macbeth glaubt, dass nach dem Mord an Duncan alles seinen gewohnten Gang gehen wird. Aber sie hat nicht damit gerechnet, was der Mord mit Macbeth macht. Er denkt nicht: „Wir haben unser Ziel erreicht“. Er denkt: „Wer kann es mir noch nehmen?“ Und weil er nach der ersten Tat nicht mehr zurück kann, macht er weiter. Er beginnt, seine eigenen Entscheidungen zu treffen - und aus dem Zauderer wird ein Tyrann.

Wenn sich die Machtverhältnisse umkehren

Was Lady Macbeth anfangs beherrscht, entgleitet ihr nach und nach. Ihre Worte verlieren an Kraft, ihre Stimme wird leiser. Macbeth braucht sie nicht mehr, um sich zu Entscheidungen zu zwingen - er handelt aus eigenem Antrieb. Und plötzlich ist sie es, die von ihrer eigenen Psyche eingeholt wird. Sie hat die Dynamik überschätzt, die sie selbst in Gang gesetzt hat. Sie dachte, sie hätte alles unter Kontrolle - stattdessen hat sie ein Monster erschaffen, das sich von ihr abwendet.

I am in blood
Stepp’d in so far that, should I wade no more,
Returning were as tedious as go o’er.
— Akt 3, Szene 4; https://www.shakespeare-online.com/

Am Ende zerbricht sie, nicht Macbeth. Sie hält dem Druck nicht stand, kann die Konsequenzen nicht tragen. Ihr extrovertierter Drang, ihre Stärke - all das nützt ihr nichts mehr. Und Macbeth? Er, der anfangs zögerte, ist nun eiskalt. Er hat den letzten Rest seines Gewissens abgelegt. Was als extrovertierte Dominanz begann, endete in völliger Umkehrung: Aus dem introvertierten Grübler wird ein rücksichtsloser Herrscher.

Einschub: Das Hauptmotiv der neuesten Inszenierung

In der aktuellen Produktion von Max Webster ist die Dynamik zwischen Macbeth und Lady Macbeth nicht mehr so klar verteilt. Es gibt Anzeichen für das klassische Muster von Introversion und Extroversion, aber die Grenzen verschwimmen.

Macbeth: Zwischen Zerrissenheit und Entschlossenheit

  • David Tennants Macbeth ist nicht der typische introvertierte Zauderer, sondern von Anfang an innerlich zerrissen. Er wird als jemand gezeigt, der unter PTSD** leidet, die ihn nicht nur in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen hält, sondern ihn auch unkontrollierbar antreibt.

  • Durch den binauralen Ton erlebt der Zuschauer seine innere Welt intensiv mit. Man spürt, wie sehr er von seiner eigenen Psyche gejagt wird - das klassische innere Grübeln eines introvertierten Charakters, aber ohne die typische Passivität.

  • Er ist nicht nur Opfer äußerer Manipulation. Sein eigener Ehrgeiz, seine innere Rastlosigkeit treiben ihn mindestens ebenso ins Verderben.

O, full of scorpions is my mind, dear wife!
Thou knowest that Banquo, and his Fleance, lives.
— Akt 3, Szene 2; Macbeth, NHB Classic Plays, Donmar Warehouse Edition

Lady Macbeth: Manipulativ, aber mit Brüchen

  • Cush Jumbos Lady Macbeth bleibt manipulativ, aber auf eine subtilere, leise bedrohliche Weise. Sie ist nicht die laute, extrovertierte Drahtzieherin, sondern agiert mit Flüstern, mit Blicken, mit fast körperlicher Nähe zu Macbeth.

  • Ihre extrovertierte Dominanz wird durch eine tiefere Verletzlichkeit ergänzt. Von Anfang an scheint sie eine Last mit sich herumzutragen, was ihre Motivation komplexer macht.

  • Der psychologische Druck, den sie auf Macbeth ausübt, ist nicht nur kalkulierte Manipulation, sondern scheint auch einem eigenen inneren Kampf zu entspringen.

These deeds must not be thought
About in these ways; so, it will make us mad.
— Akt 2, Szene 2; Macbeth, NHB Classic Plays, Donmar Warehouse Edition

Toxische Dynamik - aber anders

  • In dieser Version ist nicht klar, wann genau sich die Machtverhältnisse genau verschieben. Lady Macbeth hat zunächst die Kontrolle, aber Macbeths eigene innere Unruhe macht ihn zu einem unberechenbaren Faktor.

  • Beide zerbrechen, aber auf unterschiedliche Weise: Sie wird von ihrem Trauma eingeholt, er wird zur Maschine. Die klare Umkehrung der Machtverhältnisse, die im klassischen Macbeth erkennbar ist, verschwimmt hier in einem gegenseitigen Verfall.

Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow,
Creeps in this petty pace from day to day,
To the last syllable of recorded time;
And all our yesterdays have lighted fools
The way to dusty death.
Out, out, brief candle!
Life’s but a walking shadow; a poor player,
That struts and frets his hour upon the stage,
And then is heard no more
— Akt 5, Szene 5; Macbeth, NHB Classic Plays, Donmar Warehouse Edition

Fazit:

Kein Gewinner, zwei Verlierer

Wenn ein introvertierter Grübler auf eine extrovertierte Macherin trifft, kann das eine produktive Kombination sein - in „Macbeth“ endet sie jedoch in Zerstörung. Hier geht es nicht um „besser“ oder „schlechter“, sondern um eine Dynamik, die aus dem Gleichgewicht gerät.

Macbeth ist nicht von Anfang an ein skrupelloser Tyrann. Er ist ein denkender, zweifelnder, zögernder Mensch. Sein Problem ist nicht, dass er introvertiert ist, sondern dass ihm der innere Kompass fehlt, der ihn trotz aller Zweifel leiten könnte. Statt sich auf seine eigene Moral zu verlassen, lässt er sich treiben. Erst von einer Prophezeiung, dann von seiner Frau, schließlich von seinem eigenen Ehrgeiz. Seine Introvertiertheit wird ihm nicht zum Verhängnis, weil er denkt, sondern weil er am Ende nur noch reagiert.

Lady Macbeth hingegen glaubt an Klarheit, an Entscheidungen, an den direkten Weg nach vorn. Sie hält Macbeths Grübeln für Schwäche, sein Zögern für ein Hindernis, das es zu überwinden gilt. Ihr Problem ist nicht, dass sie extrovertiert ist, sondern dass sie nicht erkennt, dass nicht alle Menschen mit Macht umgehen können, nur weil man sie ihnen in die Hand gibt. Sie unterschätzt die psychische Belastung. Zuerst bei Macbeth, dann bei sich selbst.

Was passiert, wenn die beiden aufeinandertreffen?

Zunächst scheint Lady Macbeth die treibende Kraft zu sein und Macbeth der Getriebene. Doch nach dem ersten Mord kippt das Gleichgewicht. Macbeth wird nicht ruhiger, sondern ruheloser. Er will nicht nur König sein, er will sich sicher fühlen - und das bedeutet, dass er nicht aufhören kann. Während er sich in Paranoia verliert, verliert Lady Macbeth ihre Kraft. Ihre Worte wirken nicht mehr, ihr Glaube bröckelt, bis sie sich selbst nicht mehr ertragen kann.

Und so endet es: Sie stirbt an ihrer eigenen Schuld, er an seinem eigenen Ehrgeiz.

Das Tragische daran ist, dass sie einander hätten ausgleichen können. Macbeth hätte jemanden gebraucht, der ihm Halt gibt, statt ihn zu treiben. Jemanden, der seine Zweifel ernst nimmt, statt sie als Hindernis zu sehen. Lady Macbeth hätte jemanden gebraucht, der ihre Energie kanalisiert, statt sich von ihr überrollen zu lassen. Aber genau das geschieht nicht. Statt sich zu ergänzen, verstärken sie ihre schlechtesten Eigenschaften.

Und das ist es, was meiner Meinung nach „Macbeth“ über die Jahrhunderte hinweg relevant macht. Denn diese Muster gibt es nicht nur auf der Bühne.

Wie oft lässt sich ein unsicherer Mensch von einem anderen in eine Richtung drängen, die er eigentlich gar nicht will?

Wie oft überschätzen Menschen ihre Fähigkeit, andere zu führen?

Wie oft kippt ein Gleichgewicht, weil keiner merkt, dass er den anderen in den Abgrund zieht?

Am Ende gewinnt weder die Introversion noch die Extroversion. Es gibt kein Richtig oder Falsch, kein Schwarz oder Weiß. Es gibt nur ein zerstörerisches Ungleichgewicht - und eine Geschichte, die uns daran erinnert, was passiert, wenn niemand rechtzeitig innehält.

Einschub: Ein Gleichgewicht in der Zerstörung?

Die aktuelle Inszenierung von Max Webster mit David Tennant und Cush Jumbo zeigt eine Macbeth-Variante, die das klassische Muster des introvertierten Zauderers und des extrovertierten Treibers bewusst aufbricht:

  • Macbeth ist hier nicht nur der Getriebene, sondern trägt von Anfang an eine innere Unruhe in sich.

  • Lady Macbeth hingegen ist nicht die lautstarke Manipulatorin, sondern eine Frau, die ebenso mit ihren eigenen inneren Kämpfen ringt.

In dieser Version zerfallen sie nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Die klare Dynamik des Drängens und Zögerns, die in vielen Macbeth-Produktionen dominiert, verschwimmt hier zu einer gemeinsamen Tragödie. Sie sind nicht mehr nur Gegensätze, sondern zwei Menschen, die von Anfang an mit einem unausgesprochenen Trauma kämpfen. Vielleicht ist es der Verlust eines Kindes, vielleicht etwas anderes - aber man spürt, dass sie sich nicht nur in einem Machtstreben verlieren, sondern auch in dem Versuch, etwas zu kompensieren, das nicht mehr heilbar ist.

Und genau das rundet das Fazit ab: Während viele Versionen von Macbeth zeigen, was passiert, wenn ein Ungleichgewicht zwischen Introversion und Extroversion entsteht, zeigt diese Variante, dass auch ein gemeinsamer Zerfall keine Lösung ist. Auch hier gibt es keinen Sieger.

Auch wenn sich Macbeth und Lady Macbeth nicht mehr so deutlich als Gegensätze gegenüberstehen, endet ihr Weg im selben Nichts. Sie können sich nicht retten - nicht weil sie sich gegenseitig antreiben, sondern weil beide auf einem Fundament stehen, das längst brüchig geworden ist.

Das macht noch einmal deutlich, warum Macbeth so zeitlos ist. Denn ob als klassisches Muster von Grübeln gegen Drängen oder als tiefergehende psychologische Studie über Verlust und Rastlosigkeit - immer erzählt die Geschichte von einer Dynamik, die außer Kontrolle gerät. Von Menschen, die einander brauchen, aber nicht halten können. Von Entscheidungen, die nicht nur eine Person, sondern eine ganze Beziehung in den Abgrund reißen.

Am Ende gewinnen weder Introversion noch Extroversion. Weder Nähe noch Verständnis. Es gibt nur eine zerstörerische Spirale, die niemand rechtzeitig aufhalten kann - und eine Geschichte, die uns daran erinnert, wie schmal der Grat zwischen Liebe und Abgrund ist.

Begriffserklärungen:

Antreiber - jemand, der andere zu einer Handlung drängt oder motiviert.

Binauraler Ton - eine spezielle Tontechnik, die das Hören von Tönen räumlich erlebbar macht.

Dynamik - das Zusammenspiel und die Wechselwirkung von Figuren oder Kräften.

Fundament - hier: die psychologische oder emotionale Grundlage einer Beziehung oder Entscheidung.

Inszenierung - die künstlerische Umsetzung eines Theaterstücks oder Films.

Introspektion - nach innen gerichtete Selbstreflexion.

Manipulation - gezielte Beeinflussung anderer, um eine bestimmte Reaktion oder Handlung zu erreichen.

Naturalismus - Darstellung, die sich durch eine realistische und lebensnahe Inszenierung auszeichnet.

Paranoia - krankhafte Angst oder Verfolgungswahn, übertriebenes Misstrauen gegenüber anderen.

Prophezeiung - Vorhersage zukünftiger Ereignisse, oft mit mystischem Charakter.
Psychodrama - tiefe psychologische Tragödie, die innere Konflikte darstellt.

PTSD (Posttraumatische Belastungsstörung) ist eine psychische Störung, die nach einem traumatischen Ereignis auftreten kann und häufig mit Flashbacks, Angst und emotionaler Taubheit einhergeht.

Tyrannei - rücksichtslose, oft grausame Herrschaft, die durch Angst und Gewalt gekennzeichnet ist.

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Bildquellen:

  • Titelbild ©️ bodystock69@gmail.com via depositphotos.com

  • Open page of the complete works of shakespeare ©️ davidhanlon via depositphotos.com

  • Illustration of man vanishing in a dark black smoke, surreal emotional concept ©️ frankie_s via depositphotos.com

  • Illustration of a black tied hand, surreal abstract minimal concept ©️ frankie_s via depositphotos.com

  • Man behind window mutiple exposure ©️ frankie_s via depositphotos.com

  • Two men change their common route taking different ways ©️ frankie_s via depositphotos.com

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Bitte nicht stören – Ich übe introvertierte Selbstliebe